Biodiversität: Was ist das? Brauchen wir sie?

„Die Biodiversität unseres Planeten ist bedroht“. Fast täglich wird uns diese Mahnung durch die Medien vermittelt und mit der Forderung verbunden, dieser Bedrohung gegenzusteuern. Doch was ist eigentlich Biodiversität? Wieso ist sie gefährdet? Und brauchen wir sie überhaupt? Diesen Fragen wollen wir im Folgenden nachgehen.

Biodiversität ist eine Bemessungsgröße der Vielfalt an Lebensformen in einem bestimmten Lebensraum. Sie schließt mehrere Komponenten ein, nämlich Vielfalt der Erbanlagen in einer Population von Organismen, Artenvielfalt, und die Fülle von Ökosystemen in einem geographisch abgegrenzten Gebiet. Gemessen an der Artenvielfalt weisen die tropischen Regenwälder unter allen landgebundenen Ökosystemen unseres Planeten die größte Biodiversität auf.

Der Zustand der Biodiversität in einem Ökosystem wird dadurch bestimmt, dass alle Glieder der Lebensgemeinschaft untereinander vernetzt sind und voneinander abhängen. Ein einfaches Beispiel: Die Brennnessel ist Futterpflanze für viele Schmetterlinge, darunter Tagpfauenauge, Kleiner Fuchs, Admiral und Landkärtchen. Die Konsequenz: Mit der Beseitigung der Brennnessel in sauberen Gärten verschwinden auch die von ihr abhängigen Schmetterlingsarten. Welche verheerende Auswirkung die Vernichtung der artenreichen tropischen Regenwälder durch den Menschen auf die Biodiversität unseres Planeten hat, lässt sich anhand des einfachen Beispiels der Brennnessel leicht ausmalen.

Der Mensch ist nicht Krone der Schöpfung, sondern aus biologischer Sicht eine unter 60.000 bekannten Wirbeltierarten. Nichtsdestoweniger ist er der wesentlichste Faktor, der derzeit den Zustand der Biodiversität auf der Erde gefährdet. Dabei spielen Urbanisierung, Industrialisierung der Landwirtschaft und unser Konsumverhalten eine besonders gravierende Rolle. Seit 2007 lebt mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten, Tendenz steigend. Die ständig wachsenden Städte und deren Infrastruktur ersetzen zunehmend die Natur- und vielfältigen agrarischen Kulturlandschaften. Dies verändert das Artenspektrum der lokalen Pflanzen- und Tierwelt nachhaltig. Gleiches gilt für die Industrialisierung der Landwirtschaft, bei der vor allem der Trend zu Monokulturen, gepaart mit extensiver Anwendung von Herbiziden und Dünger, zu drastischem Rückgang von Biodiversität führt. Besonders gefährdet ist die Biodiversität unseres Planeten jedoch durch den Lebensstil des Menschen, vor allem durch den der reichen Länder. Dies wird deutlich am Beispiel des weltweit steigenden Fleischkonsums. Vor allem als Kraftfutter für die Rinderhaltung importiert allein Deutschland 6,4 Millionen Tonnen Soja pro Jahr, vorwiegend aus Brasilien, und verbraucht so 2,58 Millionen Hektar Anbaufläche, zu einem großen Teil Kahlschlagflächen in den Regenwäldern des Amazonasgebietes. Im Klartext: Für unseren steigenden Fleischkonsum sterben die artenreichen Amazonasregenwälder.
Wozu brauchen wir überhaupt die schätzungsweise 20 Millionen verschiedenen Arten von Lebewesen, die unseren Planeten bevölkern?

Die Antwort:

1. Ökosysteme mit hoher Biodiversität sind wegen der größeren genetischen Vielfalt bei Änderungen der äußeren Bedingungen (z. B. Klimawandel!!) anpassungsfähiger und damit stabiler, denn wenn im großen Netzwerk des Ökosystems ein Teil verschwindet, dann kann nur Biodiversität, wenn überhaupt, die Lücke füllen.

2. Hohe Biodiversität garantiert einen großen Vorrat an Erbanlagen, die für den Menschen nützlich sein könnten. So hat man in den Hochlagen der Anden Arten der Wildkartoffel entdeckt, die resistent gegen niedrige Temperaturen und gegen Pflanzenkrankheiten sind. Durch Einkreuzung mit der herkömmlichen Nutzkartoffel entstanden neue, auch unter schwierigen klimatischen Bedingungen kultivierbare Sorten. Oder denken wir an die reichhaltige Apotheke, die uns die Natur in Form unzähliger Heilpflanzen zur Verfügung stellt.

3. Hohe Biodiversität garantiert eine riesige Sammlung an biologischen Problemlösungen, die in der Technik als Vorbild dienen können. Damit befasst sich eine eigene Wissenschaft, die Bionik. So ist das Prinzip des allgemein bekannten und technisch weithin genutzten Lotuseffekts bei vergleichenden Studien der Oberflächen pflanzlicher Blätter entdeckt worden, und das Prinzip des Klettverschlusses wurde den Früchten der Großen Klette abgeschaut, die sich im Fell von Tieren oder auch an unserer Kleidung festkrallen.

Eines sollten wir nicht vergessen: Hohe Biodiversität ist die Grundlage für eine angemessene Lebensqualität. Diese Behauptung ist Nützlichkeitsaposteln schwer zu vermitteln. Wilhelm Barthlott, der Entdecker des Lotuseffektes, hat das auf den Punkt gebracht: „Jemand, der keine Musik mag, wird kaum verstehen, warum Beethoven ein Teil unserer Lebensqualität sein kann. Für ihn sind Orchideen und Beethoven gleichermaßen überflüssig“. Dass hohe Biodiversität der Seele guttut, können wir unmittelbar erfahren, wenn wir z. B. im Frühling den Blütenzauber der Bergstraße oder in den Alpen das Blumenmeer einer naturbelassenen Bergwiese auf uns wirken lassen. Wir haben die ethische Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass auch unsere Nachkommen noch die Möglichkeit haben, die wundervolle, faszinierende biologische Vielfalt unseres Planeten aus eigener Erfahrung zu erleben und zu bestaunen und die Vorteile hoher Biodiversität zu nutzen.

Prof. Dr. Manfred Kluge