Zeugen früherer Zeiten

Im Frühjahr erhielt die evangelische Kirchengemeinde eine Anfrage von einem Mitglied einer Gruppe von Ahnen- und Familienforschern, die ein Projekt zur Erfassung von Grabsteinen ins Leben gerufen hat. Erbeten wurden Informationen zu den alten Grabsteinen, die an der Laurentiuskirche aufgestellt bzw. angebracht sind. Die Anfrage wurde an mich weitergeleitet: Vielleicht könne ich sie beantworten. Mir aber wurde erst einmal bewusst: Ich bin hunderte Male im Laufe meiner Dienstzeit an diesen alten Grabsteinen vorbeigegangen, aber ich habe sie nie so eingehend betrachtet und ihre Inschriften gelesen, dass ich aus der Erinnerung Näheres hätte dazu sagen können. Daran immerhin erinnerte ich mich, es müsse im „Heimatbuch Seeheim-Jugenheim“ dazu etwas nachzulesen sein vom Heimatforscher Rudolf Kunz. Das war ein erster Hinweis, den ich weitergeben konnte. Damit aber war auch mein eigenes Interesse geweckt, und ich begab mich auf weitere Spurensuche. Nun erzählen die Grabsteine an der Laurentiuskirche mir aus früheren Zeiten in Seeheim. Etwas davon will ich hier weitergeben.

Der Grabstein links neben dem Haupteingang der Kirche erinnert an einen Lehrer: Christoph Müller, 1658 geboren, wurde mit 23 Jahren Schulmeister in Michelstadt. 1683 wurde er Lehrer in Ober-Ohmen, kehrte 1693 als Schulmeister nach Michelstadt zurück und hatte schließlich von 1711 bis zu seinem Tod 1743 die Schulmeisterstelle in Seeheim inne. In seiner ersten Michelstädter Dienstzeit hat er seine Ehefrau Anna Catharina geb. Küchler kennengelernt. An sie erinnert der Grabstein am südlichen Seiteneingang der Laurentiuskirche. Die beiden hatten 11 Kinder. Wie viele das Erwachsenenalter erreichten, ist mir nicht bekannt. Das aber lässt sich dem Familienbuch Seeheim entnehmen: Eine 1701 geborene Tochter Anna Catharina schloss 1734 die Ehe mit dem Lehrer Johann Balthasar Berger. Dieser wird ab 1734 als Adjunkt (Amtsgehilfe) des Seeheimer Schulmeisters geführt, 1736 auch einmal Schulmeister genannt. Jedenfalls hat er dann von 1743 – 1770 die Schulmeisterstelle in Seeheim inne und damit seinen Schwiegervater beerbt. 

Für die Besoldung des Lehrers mussten in damaliger Zeit bürgerliche Gemeinde und Kirchengemeinde gemeinsam aufkommen. Eine Aufzeichnung aus dem Jahr 1731 sagt, die Gemeinde habe dem Schulmeister jährlich 25 Gulden zu zahlen, die Hälfte am Johannistag (24. Juni), die andere Hälfte auf Martini (10. November). Die Kirchenpfleger haben jährlich auszuzahlen 10 Gulden für den Schuldienst und 5 Gulden „wegen der Orgel zu tractiren“, also für das Orgelspiel im sonntäglichen Gottesdienst. Dazu kommen kleinere Beträge aus Stiftungserträgen. An Naturalzahlungen müssen die Bürgermeister jährlich 9 Malter Korn liefern und 3 Ohm Wein. Bestandteil der Besoldung ist auch die Nutzung von 3 Stück Ackerfeld.

Die Grabsteine von Anna Catarina Müller und von Christoph Müller zeigen beide im Halbrund über dem Inschriftenfeld eine Sanduhr – Sinnbild für die Vergänglichkeit von Zeit und menschlichem Leben – und dahinter ein Paar Flügel. Sind es Engelflügel, die die Seele der Verstorbenen in die Ewigkeit tragen? Auf dem Grabstein von Christoph Müller ist unter dem Schriftfeld die Jahreszahl 1743 zu lesen. Zwischen 17 und 43 sind ein Totenschädel, Gebeine und eine Schlange dargestellt. Die Schlange, so ist in den ersten Kapiteln der Bibel zu lesen, hat Adam und Eva zur Sünde verführt. Und bei Paulus heißt es dann: „Der Sünde Sold ist der Tod; die Gabe Gottes aber ist das ewige Leben in Christus Jesus, unserm Herrn.“ (Römer 6,23)

Beide Grabsteine lagen zeitweilig, so berichtete Rudolf Kunz, in einer Schuttecke, bevor sie an der Südseite des Turmes aufgestellt wurden und bei Umbau und Erweiterung der Kirche 1959/60 an ihren jetzigen Ort kamen, um sie unter dem Vordach vor Witterungseinflüssen zu schützen. Das kann erklären, weshalb die Grabsteine Beschädigungen aufweisen und die Inschriften nicht vollständig bzw. eindeutig zu lesen sind. Das meiste freilich lässt sich bei günstigen Lichtverhältnissen durchaus entziffern.

So lese ich auf dem Grabstein von Christoph Müller:

LEICHNTEXT PSALM 16 V. 7

DAS LOS IST MIR GEFALLEN AUF LIEBLICHSTE
CHRISTOPHORUS MÜLLER BÜRTIG VON LAUTEBACH
IN HESSEN IST GEBOHREN AO 1658 DEN 29. JULY
IN DER EHE GELEBT 49 JAHR 11 MONATH
KINDER ERZEUGET 11
IN KIRCH UND SCHUL GEDIENT 52 JAHR
GESTORBEN 1743 DEN 7. APRIL
ALT 85 JAHR WENIGER 16 WOCHEN
ICH RUHE WOHL IN MEINEN GOTT
DER MICH ERLÖST HAT
AUS ALLER NOTH

Das Psalmwort auf dem Grabstein lautet vollständig in unserer heutigen Luther-Bibel: „Das Los ist mir gefallen auf liebliches Land; mir ist ein schönes Erbteil geworden.“

Die Inschrift auf dem Grabstein von Anna Catarina Müller ist in ähnlicher Weise gehalten. Ihre Lebensdaten sind: 23. März 1666 – 29. März 1733

Christoph Müller hat seine Frau noch um zehn Jahre überlebt. Der Sterbebucheintrag von 1743 sagt: „Christoph Müller gewesener Schulmeister allhir, gebürtig zu Lauterbach in Hessen, hat als Schulmeister in Schularbeit Gott und den Nächsten gedient 52 Jahr, zu Seeheim aber 22 Jahr; ward im hohen Alter ein emeritus. Hat informirt 1064 Schüler. Ward krank …und starb im Wittwerstand selig den 7. April 1743 zwischen 3 und 4 Uhr nach mittags, und ist 9. dito begraben worden. – Alt 85 (Jahr) weniger 16 Wochen und 1 Tag. Hat gezeugt 11 Kinder, 4 Söhn und 7 Töchter.“

Die beiden beschriebenen Grabsteine, an denen ich viele Male vorbeiging, ohne sie groß zu beachten, geben Zeugnis und erzählen vom Leben vor 300 Jahren in Seeheim, von Arbeit, Dienst und Mühe, von Glück und Not, und was in Leben und Sterben Trost und Hoffnung gab.

Nähere Angaben zu dem erwähnten Grabstein-Projekt sind zu finden bei : https://grabsteine.genealogy.net

 

Joachim Schließer, Pfarrer i.R.